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Kapitel 1 - Der Alte

Amerika - vor sehr langer Zeit

Sie hatten ihn gefunden.

Mit gehetzten Schritten floh der Alte über das Felsplateau. Noch war er seinen Verfolgern voraus. Wie weit, vermochte er nicht zu schätzen. Seine Flucht führte ihn Richtung Norden auf eine Hochebene. Seine wenigen Habseligkeiten musste er zurücklassen, geblieben war ihm die verschlissene Kleidung an seinem Körper. Die einzigen Wertgegenstände waren ein Schwert und ein goldenes Medaillon, welches um seinen Hals hing. Gegen die Kälte schützte ihn lediglich eine alte Wolljacke. Seine grauen, langen Haare waren zu einem Zopf geflochten und genauso verfilzt wie sein grauer Bart, der an der Spitze zusammengebunden war. Ein reinigendes Bad lag schon Wochen zurück. Es regnete in Strömen und die Kleidung wie auch die Haare klebten dem Alten auf seiner Haut. Mit langen Schritten näherte er sich seinem Ziel.

Um sein rechtes Knie hatte er eine Art Verband gebunden, bestehend aus einem nun fehlenden Stück seines Hemdes. Der Verband, von Blut durchtränkt, deckte eine Verletzung des Knies ab, die er sich auf der Flucht zugezogen hatte. Sein Knie schmerzte. Doch körperliche Schmerzen konnten den Alten nicht aufhalten.

Seine Schritte wirkten trotz der Verletzung und der nun schon lange andauernden Flucht erstaunlich kraftvoll und seine Füße fanden auch auf dem vom Regen aufgeweichten Boden sicheren Halt.

Auch wenn er für sein Alter erstaunlich ausdauernd war, wusste er, dass er dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten konnte. Seine Lungen brannten und Seitenstiche quälten ihn. Sein Körper schrie nach einer Pause, sein Verstand trieb ihn jedoch weiter.

Äußerlich wirkte der Alte gebrechlich und sein knochiges Gesicht und der dünne Körperbau zeigten, dass er sich in letzter Zeit viel zu schlecht ernährt hatte. Niemand würde in ihm einen großen Krieger vermuten. Nur seine tief grünen Augen zeugten noch von diesem Mann. Augen mit einem unerschütterlichen Blick. Dieser Blick hatte in kriegerischen Zeiten bei vielen Menschen mehr Einfluss ausgeübt als ein Trupp mit Schwert und Streitaxt bewaffneter Krieger.

Das goldene Medaillon hing an einer silbernen Kette um seinen Hals und schlug bei jedem Schritt gegen seine Brust.

Der Untergrund veränderte sich. Der Anstieg war vorüber und jetzt ging es langsam bergab. Der Boden war auf dieser Seite des Berges fester und durch den Regen hatten sich schon größere Pfützen gebildet. Die Gewissheit, den höchsten Punkt erreicht und von nun an den leichteren Weg vor sich zu haben, gab dem Alten neue Hoffnung.

Diesen Teil des Gebirges kannte der Alte gut. Vor ein paar Wochen war er aus östlicher Richtung an dieser Stelle vorbeigekommen. In unmittelbarer Nähe hatte er genächtigt.

Während seiner langen Flucht hatte er die Fähigkeit entwickelt, sich seine Umgebung dauerhaft einzuprägen. So konnte er seinen Verfolgern zu jeder Zeit entkommen.

Den jetzigen Verfolgern, das wusste er, konnte er sich nicht stellen. Nicht an einem solchen Ort. Ihm blieb nur die Flucht. Und dem Ausweg aus dieser Situation kam er nun immer näher.

Der Alte musste den nun größer werdenden Pfützen aus eiskaltem Wasser ausweichen. Ob seine Feinde aufholten, wusste er nicht. Jedoch weit konnten sie nicht hinter ihm sein. Doch hinter der nächsten Baumreihe musste er sein Ziel schon erkennen können. Dieses Ziel war eine zur Hochebene führende Hängebrücke. Wenn er es schaffen würde, die Brücke zu überqueren, fing nach kurzer Entfernung ein großes Waldgebiet an.

Dort, wusste er, war er vorerst in Sicherheit. In einem solch dichten Wald würden sie es nicht wagen ihn anzugreifen.

Der Alte, mit der Gewissheit, seinem Ziel nahe zu sein, legte nun trotz größter körperlicher Qualen an Tempo zu. Schon in kürzester Zeit würde er sein Ziel sehen können.

Er rannte nun um die Baumreihe und schlug den Weg Richtung Westen ein. Als die Brücke in Sichtweite kam, verlangsamte er seine Schritte. Er wurde immer langsamer, bis er schließlich stehen blieb. Was er da sah, ließ sein Herz stillstehen. Seine Augen blickten entsetzt auf die Überreste der zerstörten Hängebrücke. Die Seile der Brücke wurden ursprünglich auf jeder Seite der Schlucht mit Holzpfählen gehalten. Sie überspannten die Schlucht und eine Reihe von Holzlatten war in kurzen Abständen daran befestigt.

Zwar war die Hängebrücke schon älter, aber das Holz befand sich trotz des Klimas hier oben noch in gutem Zustand. Es hätte den Alten mit Sicherheit getragen. Doch irgendjemand hatte die Holzpfähle aus dem Boden gezogen und die Seile auf dieser Seite abgeschnitten. Die Überreste der Konstruktion hingen nun an der Felswand der gegenüberliegenden Seite und große Teile der Brücke waren in die Schlucht gestürzt.

Er war in der Falle.

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er über eine andere Möglichkeit nach, um die Schlucht zu überqueren. Doch dafür war die andere Seite der Hochebene zu weit entfernt. Und ein anderer Ausweg war nicht möglich.

Wer für die Zerstörung verantwortlich war, wurde dem Alten sofort klar. Nur seine Verfolger konnten dies getan haben, um ihn in eine Falle zu locken. Und genau in diese war er blindlings hineingetappt. Der Alte wusste, was dies bedeutete, die Jagd war vorüber. Jetzt würde es zu Ende gebracht.

Er zog an der Kette und nahm sein Medaillon unter dem Hemd hervor. Mit seinen Fingern strich er Regentropfen von dem runden Schmuckstück und schaute auf das goldene Symbol in der Mitte. Hunderte Male hatte er es in Händen gehalten und angeschaut. Und jedes Mal sah es für ihn anders aus. Es schien so, als ob das Medaillon die Gefühle des Betrachters ausdrücken könnte.

Der Puls des Alten verlangsamte sich und das Brennen der Lunge und die Seitenstiche waren verschwunden. Sein Knie klagte jedoch nach der Anstrengung umso mehr. Er versuchte, die Schmerzen zu ignorieren. Für einen Moment überlegte er, während er das Symbol berührte, ob es nicht wenigstens für seinen treuen Gefährten einen Fluchtweg gab. Doch er wusste, sein Gefährte würde in dieser Situation nicht von seiner Seite weichen. Zu viele Schlachten hatten sie gemeinsam geschlagen. Zu vielen Gefahren waren sie beide zusammen entkommen. Sie ergänzten sich bei jedem Kampf besser. Es war mehr als eine einfache Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Es bildete sich in den letzten Monaten ein unzertrennliches Band. Und auch das Bevorstehende konnte diesen Zusammenhalt nicht zerstören.

Während der Alte dort stand und das Medaillon betrachtete, hörte er hinter sich ein tiefes, unmenschliches Knurren. Sein Herzschlag fing augenblicklich an zu rasen. Eiskalt lief es ihm den Rücken herunter. Die Zeit war gekommen. Er schaute ein letztes Mal auf das Schmuckstück in seiner Hand und steckte das Medaillon wieder unter sein Hemd. Mit seiner rechten Hand zog er sein Schwert aus der Scheide. Er war bereit für das, was ihn nun erwarten würde, und er wusste, dass er nicht alleine war. Langsam, sehr langsam drehte der Alte sich um.

„Nun, mein Freund“, flüsterte er, „kommt unser Ende. Danke für deine unerschütterliche Treue.“

Der Alte wusste, dass er nun seinem Albtraum entgegentreten würde. Die einzige Person, die ihn davor hätte beschützen können, hatte ihn verraten. Doch in diesem Moment verzieh er dieser Person. Er hatte sein Vermächtnis hinterlassen. Auf eine Art und Weise, wie es seine Feinde niemals erwartet hätten.

Er war bereit.

Er hob sein Schwert und wartete auf den Angriff.

 

  

Lars Szuka  | Kontakt@lars-szuka.de